RuhrGesichter “I’m finding my way, and I make mistakes.” (PJ Harvey)

I Want Absolute Beauty                                                                    

Furiose Inszenierung mit Sandra Hüller

Als    der    neue    Intendant    der    Ruhrtriennale,    Ivo    Van    Hove,    ankündigte:    „Die Ruhrtriennale    soll    ein    großes    Fest    werden,    in    das    wir    (…)    mit    einem Premierenfeuerwerk    starten.    Ich    freue    mich    auf    die    vielen    fantastischen Künstler:innen    aus    der    ganzen    Welt,    die    zu    uns    ins    Ruhrgebiet    kommen werden…“   waren   wir   gespannt   und   wählten   aus   dem   „Feuerwerk“   des   Festivals der   Künste   die   zweite   Aufführung   von   „I   Want   Absolute   Beauty“   als   unseren   ganz persönlichen Start in die Ruhrtriennale 2024 aus. Das Fazit vornweg: Es war eine furiose Inszenierung. In    der    Produktion    von    Intendant    Ivo    Van    Hove    in    Partnerschaft    mit    der künstlerischen   Leitung   vom   Ballet   National   de   Marseille   spielte   und   sang   die Schauspielerin   Sandra   Hüller   in   der   Hauptrolle   die   -gut   ausgewählte-   zeitlose Musik   von   Alternative-Rockstar   PJ   Harvey   auf   der   Reise   durch   „emotionale   und mentale    Landschaften“    auf    der    Suche    nach    sich    selbst.    Mit    ihr    reiste    das tanzrevolutionäre   Künstler:innen-Trio   (LA)HORDE.   Die   groß   angelegte   Produktion geriet    zu    einer    kurzweiligen,    facettenreichen    Selbstfindung    mit    überraschend überzeugendem,     intensivem     Gesang,     zeitloser     Musik,     schauspielerischen Elementen,      ideenreichem      und      in      jeder      Nuance      hochklassigem      Tanz        choreographiert von Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel. Die   acht   Tänzer   übertrugen   die   Sehnsucht,   den   Zorn,   die   Gewalt,   die   Liebe,   die Enttäuschung   und   die   Seele   der   Geschichte   in   Bewegung;   das   war   formidabel choreographiert und anspruchsvoll umgesetzt. Dazu    gab    es    auf    der    riesigen    Projektionsfläche    kreative    Videokunst,    die Liveaufnahmen   -teils   von   den   Akteuren   mit   der   Handkamera   aufgenommen- direkt   von   der   Bühne   und   Aufnahmen   aus   der   Vogelperspektive   mit   Einspielern mischte;   beides   war   weder   eine   Übertragung   des   Geschehens   für   die   Zuschauer, die   ihre   Brille   vergessen   hatten,   noch   eine   überladene   Videokunstshow,   sondern eine harmonisch-kreative Ergänzung der Inszenierung. Beeindruckend! Gesprochenes   Wort   gab   es   nicht.   Die   hochklassige   Band   (Liesa   Van   der   Aa,   Anke Verslype,   Neil   Claes,   Alban   Sarens)   überzeugte.   Zudem   schaute   die   französische Schauspielikone   Isabelle   Huppert   noch   für   einen   bemerkenswerten   Kurzauftritt auf der bühnenbreiten Leinwand vorbei. Die   Bühne   selbst   war   ein   großes,   mit   Erde   bedecktes   Feld,   das   hinter   der   Band   in einer   Spiegelwand   physisch   begrenzt   und   optisch   verlängert   wurde.   Von   den Seiten   kroch   Nebel   über   die   Bühne,   die   mal   ein   weites   erdbedecktes   Feld   des Wachstums   war,   sich   dann   bedrohlich   in   flackerndem   Licht   einengte   und   dann   im nächsten Moment zur Stätte des Ausbruchs und der Befreiung geriet. Die    Tänzer    des    Ballet    National    de    Marseille    liebten,    töteten,    missbrauchten, halfen   und   verprügelten   einander   unablässig,   sie   marschierten   und   türmten   sich zu   Leichenbergen…   und   das   alles   anspruchsvoll   tänzerisch,   mal   leichtschwebend, mal    schicksalsschwer:    Chapeau.    Man    mag    es    angesichts    der    großartigen Kollektivleistung   kaum   aussprechen,   aber:   Aus   dem   klasse   Ensemble   ragte   die Tänzerin Sarah Abicht noch etwas heraus. Dass   Sandra   Hüller,   die   unentwegt   alles   in   die   Welt   sang,   grollte   und   schrie,   was ihre   Stimme   zu   leisten   vermag,   inmitten   der   wirbelnden   Tänzer   nicht   als   mittig stehende   „Sängerin   der   Band“   unterging,   sondern   darstellender   Teil,   Mitte   und Krone   des   Geschehens   blieb,   war   nicht   nur   der   famosen   Inszenierung   geschuldet, sondern gelingt auch nur einer Hauptfigur mit dem Format einer Sandra Hüller. Es    ging    bei    dem    Stück    Musiktheater    um    Selbstverwirklichung,    Gewalt    und Freiheit,   Sexualität   und   Selbstverletzung,   persönliche   Entscheidungen   und   den Umgang     mit     externen     Erwartungen     und     dem     eigenen     (und     fremden) Rollenverständnis.   Bei   dieser   Reise   ins   Ich   ging   es   teils   in   den   Darstellungen   von Sexualität    und    Gewalt    recht    derbe    zu    ohne    die    sehr    schmale    Grenze    zur Effekthascherei oder Provokation um ihrer selbst willen auch nur zu tangieren. Die   26   Titel   von   PJ   Harvey   wurden   in   vier   Kapitel   unterteilt:   Grow,   Love   and Personal   and   Political   Dissapointments,   Big   Exit,   Back   Home.   Das   Überwinden von   Hindernissen,   persönliches   Wachstum   und   Finden   eines   Wesenskernes,   die Akzeptanz   von   dem,   was   ist   an   genau   der   Stelle,   an   der   das   Eigene   und   das Andere,   Selbst   und   Umwelt   aufeinandertreffen:   All   das   klingt   verdächtig   nach verkopftem    Musiktheater    für    Geistes-    und    Sozialwissenschaftsstudenten,    bot jedoch    auf    unterschiedlichsten    Ebenen    sehr    freie    Andock-,    Genuss-    und Auseinandersetzungsmöglichkeiten;    das    war    eine    bunte,    aber    von    großer Ernsthaftigkeit   getragene   Produktion,   die   für   (fast)   jeden   etwas   in   der   Auslage hatte   und   die   eine   oder   andere   Überraschung   und   Erkenntnis   bot.   Und   dies,   ohne zu       einem       achtzigminütigen,       wahllosen       pseudogesellschaftskritischen Sammelsurium    oder    gar    einer    allzu    klischeehaften    Aneinanderkettung    von musikalischen und tänzerischen Selbsterkenntnis-Plattitüden zu verkommen. Der    rote    Faden    in    Handlung,    Musik    und    Tanz    einte    Künstler    und    das    sehr gemischte   Publikum   und   lies   einen   eindringlichen,   beeindruckenden   Abend   in   der altehrwürdigen   Jahrhunderthalle   Bochum   entstehen,   der   dann   im   Festivalzentrum WUNDERLAND   unter   dem   Wasserturm   der   Jahrhunderthalle   wunderbar   bei   dem einen oder anderen Kaltgetränk ausklingen durfte. Alles zur Ruhrtriennale hier: www.ruhrtriennale.de
© Foto: Jan Versweyveld
“We just kind of lost our way. But we were looking to be free. One day we’ll float. Take life as it comes.”               (PJ Harvey)
© Foto: Jan Versweyveld
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