RuhrGesichter “We received our ghosts From the ones we need the most We keep feeding ghosts To the ones we love the most”

TWO WORDS IN JAPANESE                                    

Psychoanalyse in der Geisterküche

Das    Electronica-Projekt    TWO    WORDS    IN    JAPANESE    hat    das    erste    Vollzeit- Studioalbum   veröffentlicht:   Es   hört   auf   den   Namen   GHOST   KITCHEN,   ist   einfach umwerfend    und    sei    unserer    werten    Leserschaft    unbedingt    anempfohlen.    An dieser    Stelle    könnte    diese    Rezension    enden,    denn    die    Kernbotschaft    ist übermittelt.   Da   wir   aber   Lust   haben,   das   Internet   noch   etwas   vollzuschreiben und   genau   wissen,   dass   unsere   Leser   gerade   ohnehin   nichts   Besseres   zu   tun haben,   schreiben   wir   einfach   weiter,   denn   dieses   Ausnahme-Album   hat   einfach mehr   schöne   Worte   verdient:   Hinter   TWO   WORDS   IN   JAPANESE   steckt   Produzent und   Komponist   Nico   Steckelberg,   Musiker   und   Produzent   der   Fantasy-Folk-Band ELANE,   der   auf   GHOST   KITCHEN   zusammen   mit   der   Sängerin   Bianca   Stücker eine große Vielfalt an -meist düsteren- elektronischen Klängen vor uns ausbreitet. Wir    Ruhrgesichter    gestehen:    Mit    Electro-Kram    haben    wir    typischerweise    so unsere     Probleme,     meist     sind     alle     schrecklichen     Einzelzutaten     bei     den Produktionen   versammelt,   die   es   braucht,   um   uns   auch   als   Ganzes   nicht   zu gefallen.   In   Clubs   ertragen   wir   das,   aber   daheim   zum   wirklichen   konzentrierten Zuhören   gefallen   uns   die   sterilen,   künstlichen   Sounds   oft   nicht,   meist   ist   uns   die Musik   zu   monoton   und   kompositorisch   zu   dünn   oder   im   anderen   Extrem   so verkopft,   dass   wir   sie   exakt   4   Minuten   und   30   Sekunden   interessant   finden,   dann aber erstmal nach den Kopfschmerztabletten suchen müssen. Als   wir   erstmals   mit   spitzen   Fingern   und   noch   spitzeren   Ohren   in   das   Album   von TWO    WORDS    IN    JAPANESE    reinhörten,    waren    wir    also    auf    das    Schlimmste gefasst.   Und   wurden   auf   bestmögliche   Weise   enttäuscht,   was   teils   auch   an   den eher     klassischen     Songstrukturen     liegen     mag:     Wir     wussten     nicht,     dass Elektronikmusik   so   spannend   sein   kann,   intelligent,   vielseitig,   ohne   in   Beliebigkeit abzurutschen und die atmosphärische Klammer des Albums zu verlassen. Manchmal   minimalistisch   arrangiert,   dann   wieder   opulent   und   detailreich   und   das Ganze    versehen    mit    einem    überraschend    organisch    wirkenden    Sound.    Ein Umstand,   der   auch   dem   klug   dosierten   Einsatz   von   Violoncello   (Anna   Stuart), Violine    (Simon    Spillner)    und    natürlich    der    Sangeskunst    von    Bianca    Stücker geschuldet   ist.   Dr.   Bianca   Stücker   studierte   Musikwissenschaft,   Kunstgeschichte und   Geschichte,   promovierte   an   der   Folkwang   Universität   der   Künste   in   Essen und   legte   ein   Kirchenmusikexamen   ab.   Sie   ist   Schriftstellerin,   lehrt   orientalischen Tanz,   tätowiert,   singt,   komponiert   und   spielt   nahezu   jedes   Instrument,   dass   sie   in die   talentierten   Finger   bekommt.   Vor   Ewigkeiten,   in   der   alten   Welt,   hätten   wir   sie im    generischen    Maskulinum    als    einen    Tausendsassa    bezeichnen;    wäre    die korrekte   Form   heute   eine   Tausendsässin,   eine   Tausendensasserin   oder   rettet   man sich   in   solchen   Fällen   auf   die   Formulierung   „eine   tausendsassende   Person“?   Die Klugscheißer   unter   unseren   Lesern   sind   aufgerufen,   Licht   in   Dunkel   zu   bringen. Wikipedia    jedenfalls    kennt    das    österreichische    Pendant    zum    Tausendsassa: „Wunderwuzzi“. Auch sehr schön. Wunderw    Bianca   Stücker   besitzt   jedenfalls   eine   kristallklare   Stimme,   die   sich   auf dem   vorliegenden   Album   allerdings   gelegentlich   in   den   unaufgeräumten   Winkeln der    Seele    herumtreibt,    mit    Zigarettenspitze    raucht,    sich    verführerisch    in    die Gehörgänge   räkelt,   nur   um   im   nächsten   Moment   flammengleich   in   der   Pupille des   Betrachters   zu   tanzen;   dabei   stets   eine   bedrohliche   Portion   Bodennebel   mit sich   bringend,   um   schließlich   mit   einem   Gefolge   aus   mysteriösen   Schattenwesen über     den     abgründigen     Texten     zu     schweben.     Die     teils     anspruchsvollen Gesangspassagen    meistert    sie    mit    links    und    prägt    die    Musik    mit    ihrer wundervollen   Stimme,   ohne   die   Kompositionen   zu   erdrücken;   ihr   Stimmbeitrag kratzt an keiner Stelle an einem „zu viel“. Kein   Zweifel:   Bianca   Stücker   und   Nico   Steckelberg,   das   passt   kreativ   zusammen. So   erinnert   sich   Bianca   Stücker:   „Als   Nico   mir   das   Demo   zu   MINDSET   GAP   und sein   Grobkonzept   dazu   geschickt   hat,   fügte   sich   gleich   alles   ganz   wie   von   selbst zusammen.   Die   Vocals   schienen   mir   auf   Anhieb   zu   passen.   Ich   habe   mich   dann kurzfristig,    ja    beinahe    ‚zwischen    Tür    und    Angel‘,    an    die    Gesangsaufnahmen gemacht.“   Auch   Nico   Steckelberg   bestätigt:   „Die   künstlerische   Harmonie   und   die angenehme   Arbeitsatmosphäre   zwischen   uns   wirkten   wie   ein   Kreativitäts-Motor. Es   war   goldrichtig,   aus   GHOST   KITCHEN   ein   Duo-Projekt   Steckelberg/Stücker   zu machen. Ich bin sehr stolz darauf.“ Wir   würden   gerne   an   dieser   Stelle   den   Rezensenten   –   Klassiker   bringen,   dass Fans   von   Künstler   XY   unbedingt   mal   in   GHOST   KITCHEN   reinhören   sollten.   Da   wir jedoch   Künstler   XY   nicht   kennen,   hört   einfach   alle   mal   rein.   Wir   haben   keine Ahnung,   wer   normalerweise   so   einen   Stoff   hört,   kauft   oder   illegal   runterlädt.   Wir als    frisch    Bekehrte    rufen    in    die    Welt:    Wenn    dies    da    draußen    irgendwo    die Zielgruppe    liest,    meldet    Euch    mit    aussagekräftigen    Ganzkörperfotos    bei    den Ruhrgesichtern,   so   dass   wir   uns   ein   Bild   machen   können.   Wir   wünschen   TWO WORDS   IN   JAPANESE   jedenfalls,   dass   die   Zielgruppe   groß   sei   und   sich   Reichtum und Liebe über dieses Ausnahme - Projekt ergießen. GHOST   KITCHEN   ist   detailreich   und   verspielt,   jedoch   nie   aus   der   Form   rutschend, was    allein    aufgrund    der    Tatsache,    dass    die    Ideen    zu    den    Songs    sich    über Jahrzehnte   bei   Nico   Steckelberg   angesammelt   haben,   mehr   als   überraschend   ist. Die   clever   und   ausreichend   sparsam   eingesetzten   Samples   unter   anderem   von Prof.   Sigmund   Freud   und   Atmo-Samples   runden   den   facettenreichen,   wilden   Ritt durch diverse Genres mit einem fast cinematographischen Vibe ab. Trotz   des   psychoanalytischen   Leitmotivs   dieses   Konzeptalbums   und   Songtexten, die   Ängste,   Depression   und   Traumata   auch   als   Resultat   von   gesellschaftlichen Strukturen   und   Beziehungsgeflechten   behandeln,   suhlt   sich   das   Konzeptalbum nie   im   Leidmorast   und   bietet   auch   keine   einfachen   Lösungen,   sondern   bleibt   tief, abgründig,   aber   nicht   hoffnungslos.   Ein   solches   Konzept   eingängig   mit   schönen, verspielten   Melodien   und   gelegentlich   sogar   tanzbar   umzusetzen,   ohne   dass Musiker    oder    Zuhörer    ständig    mit    den    tanzenden    Füßen    über    den    eigenen problemschweren Kopf stolpern: Das ist schon eine Kunst für sich. Der   Titelgebende   erste   Track   des   Albums   „Ghost   Kitchen“   schleicht   sich   mit einfachen    Piano    Akkorden    und    der    Stimme    Sigmund    Freuds    heran.    Nico Steckelberg    dazu:    „Im    Rahmen    des    Albumkonzeptes    steht    der    ‚Geist‘    hier stellvertretend   für   Ängste.   Die   GHOST   KITCHEN   ist   also   die   ‚Küche   der   Angst‘ oder   anders   ausgedrückt:   Der   Ursprung   des   Traumas   oder   die   traumatisierende Situation.   Sie   ist   Ursache   für   Symptome   und   Leiden,   die   wir   alle   über   Jahre erleben   und   die   unsere   Handlungen   nachhaltig   beeinflussen.   So   geben   wir   sie auch    weiter    an    andere.“    Der    Downbeat-Electro-Track    „Mindset    Gap“    beginnt herrlich    minimalistisch    und    gibt    Bianca    Stückers    Gesang    Raum,    die    Flügel auszubreiten.      Zum   getriebenen,   quietschig-bunt-hektischen   Upbeat   Stück   „Day in, Day out“ wurde ein sehenswertes Video veröffentlicht. Im   Chorus   eines   Highlights   des   in   diesem   an   Höhepunkten   nicht   eben   armen Albums,   im   Song   „Emotional   R.O.M.“,   erklingt   die   Stimme   des   norwegischen Musikers   Dreaming   Cloud.   „Insomnia   Central“   und   „By   the   Sycamore   Trees“ behandeln   Schlaflosigkeit   und   Gedankenrasen   bei   Nacht.   Die   Ich-Erzählerin   wird ihre   „inneren   Geister“   nicht   los.   Immer   wenn   das   passiert,   setzt   sie   sich   ins   Auto und   fährt   zu   einem   verfallenen   Einkaufszentrum.   Wir   sind   als   Zuhörer   auch aufgrund   der   sparsam,   aber   wirksam   eingesetzten   Soundeffekte   mitten   in   der Szenerie.   Auf   dem   Parkplatz   vor   der   Mall   legt   sich   die   Ich   –   Erzählerin   auf   den Boden   und   starrt   durch   die   Baumwipfel   in   den   Nachthimmel.   Ihre   psychischen Probleme   liegen   –   wie   die   Wurzeln   dieser   Bäume   –   tief   verborgen   unter   der Oberfläche   des   Sichtbaren.   Hier   und   da   gibt   es   bereits   Risse   im   Asphalt…   „An Mignon“   erinnert   ein   wenig   an   die   besten   Zeiten   von   Helium   Vola;   der   Song   ist angelehnt    an    die    Schubert-Vertonung    eines    Goethe-Gedichtes    aus    dem    Jahr 1815. Wundervoll und herzzerreißend. „The    Truth    (Norma    Jeane)“    behandelt    die    Geschichte    hinter    dem    tragischen Schicksal   von   Norma   Jeane   Mortensen   alias   Marilyn   Monroe.   TWO   WORDS   IN JAPANESE   erlaubt   den   Hörern   den   Blick   auf   Norma   Jeane   ausschließlich   durch einen   musikalischen   Tränenschleier.   Tief,   traurig   und   doch   musikalisch   von   einer melancholischen,   nie   unangenehmen   Weite,   die   so   manch   einen   Zuhörer   über den eigenen Horizont hinausrutschen lassen kann. „Pattern’s   End   (Here   Comes   the   Winter)“   schließlich   stellt   endgültig   klar:   Mit einem   Sommerhit   ist   auf   diesem   Album   nicht   mehr   zu   rechnen.   Stattdessen serviert   uns   TWO   WORDS   IN   JAPANESE   eine   schwere   Depression.   Es   gelingt   der Protagonistin   des   Liedes   nicht   mehr,   aus   eigenen   Stücken   einen   Ausweg   zu finden,   alles   um   sie   herum   wird   zunehmend   kälter.   Der   Track   orientiert   sich   an dem   deutschen   Volkslied   „Ach,   bittrer   Winter“,   welches   für   dieses   Album   neu arrangiert   wurde.   PATTERN’S   END   ist   erreicht,   wenn   im   Leben   keine   Farbe   übrig ist. Die Welt versinkt in gefühlsdumpfem Schwarzweiß. Wir   Ruhrgesichter   haben   „Patterns’s   End“   im   Auto   gehört,   als   wir   eine   Freundin von   der   Arbeit   abgeholt   haben.   Sie   stieg   ein,   lauschte   kurz   auf   die   Musik   und meinte   sinngemäß:   „Das   ist   der   perfekte   Soundtrack,   um   die   falschen   Drogen   zu hoch    zu    dosieren    oder    nach    zu    viel    Billigfusel    erst    in    miesen    Kneipen unangemessen   zu   tanzen   und   sich   dann   daran   zu   erinnern,   dass   man   sich eigentlich mit 16 schon umbringen wollte. Aber lass mal an. Klingt geil.“ Dem haben wir nichts hinzuzufügen. GHOST    KITCHEN    ist    erschienen    als    CD,    Download    und    Stream    beim    Label caramel klang im Vertrieb von Alive.  
© Fotos: Chelsea B.
© Fotos: Chelsea B.